„Die Wertschätzung der Physiotherapie in Deutschland muss sich weiter verbessern“
Wir haben mit Frau Ute Repschläger über die Rolle der Physiotherapeuten bei der Versorgung von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen gesprochen. Ute Repschläger ist Vorsitzende des Bundesverbands selbstständiger PhysiotherapeutInnen (IFK e.V.), der mehr als 6.000 selbstständige Physiotherapeuten in Deutschland vertritt. Ute Repschläger selbst betreibt seit 27 Jahren ihre eigene Praxis und setzt sich seit langem für eine höhere Anerkennung, mehr Kompetenzen und eine höhere Vergütung der Physiotherapeuten ein.
bomedus: Frau Repschläger, herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen! Wir fallen gleich mit der Tür ins Haus: Mit welcher Diagnose und von wo kommen heute die meisten Patienten mit Rückenschmerzen zum Physiotherapeuten?
Ute Repschläger: Die Mehrzahl der Patienten kommt direkt vom Hausarzt zu uns, an zweiter Stelle vom Orthopäden. Meist ist die Verordnung der Ärzte allgemein gehalten, z.B. „LWS-Syndrom“. Unsere Aufgabe ist es dann, diese Diagnose weiter auszudifferenzieren und z.B. herauszufinden, ob Gelenkblockierungen vorliegen und welche Muskeln und Faszien an der Schmerzentstehung beteiligt sind. In den letzten Jahren hat sich die häufigste Diagnose von Patienten mit Rückenschmerzen bei uns verändert. Früher waren es vorwiegend Patienten mit akuten Bandscheibenvorfällen nach einer OP. Heute behandeln wir eher andere degenerative Erkrankungen, wie etwa Einengungen des Rückenmarkkanals (Spinalkanalstenose), knöchernde Anbauten (Osteophyten), Bandscheibenminderungen und arthrotischen Veränderungen der kleinen Gelenke.
bomedus: Woher kommt diese Verschiebung Ihrer Meinung nach?
Ute Repschläger: Möglicherweise resultiert sie aus veränderten Lebensbedingungen. Denkbar wäre aber auch, dass die Verschiebung daraus resultiert, dass Patienten mit akuten Bandscheibenvorfällen heute schneller und minimalinvasiv operiert werden. Bessere OP-Methoden bedürfen weniger oder zum Teil keiner Nachsorge mehr durch uns. Zudem wird ja heute auch genauer geschaut, ob eine OP wirklich notwendig ist oder nicht. Häufig reicht auch eine gezielte Physiotherapie. Die genauen Zahlen dazu sind allerdings Teil der Versorgungsforschung, die unbedingt intensiviert werden müsste. Ich kann hier nur von den Patienten sprechen, die zum Physiotherapeuten kommen.
bomedus: Und wie gehen Sie dann bei der Therapie vor, wenn ein Patient mit Rückenschmerzen zu Ihnen kommt?
Ute Repschläger: Zunächst einmal muss man sagen, dass das grobe Therapieziel derzeit noch per Verordnung durch den Arzt festgelegt und von uns mit dem Patient dann konkretisiert wird. Sehr häufig ist das Ziel, die Rückenschmerzen zu reduzieren. Insgesamt lässt sich die therapeutische Reihenfolge dann z.B. so beschreiben: Im ersten Schritt geht es darum, die Schmerzen zu bekämpfen, denn ein schmerzhafter Muskel trainiert nicht gern. Training der Muskulatur ist jedoch wichtig, um zukünftigen Verletzungen vorzubeugen und um das gesamte Skelettsystem inklusive der Wirbelsäule zu stabilisieren.
Nach der Schmerzreduktion machen wir die Gelenke mit verschiedenen Verfahren wieder beweglich. Anschließend bauen wir mit Hilfe spezieller Übungen die betroffene Muskulatur (wieder) auf. Am Ende der Therapie ist es wichtig, zusammen mit dem Patienten den Alltagstransfer zu schaffen. Hier geht es darum, bestimmte Verhaltensweisen, etwa bezüglich der körperlichen Aktivität, fest in den Alltag zu verankern. Sehr schwierig wird dieser Ablauf, wenn die Patienten durch einen langen Leidensweg bereits schwer chronifiziert sind und sich ein Schmerzgedächtnis ausgebildet hat. Dann geht es hauptsächlich darum, dem Patienten zunächst die Angst vor Bewegung zu nehmen.
bomedus: Wenn Patienten Beschwerden haben, müssen Sie vorher zum Arzt, um eine Physiotherapie verschrieben zu bekommen. In anderen Ländern ist das zum Teil anders geregelt. Sie fordern seit Langem, dass auch in Deutschland die Patienten direkt zu Ihnen gehen können (Direktzugang). Der Physiotherapeut entscheidet dann anhand festgelegter Kriterien, ob eine ärztliche Untersuchung notwendig ist. Anschließend legt er fest, wie lange und wie therapiert wird. Wie ist Ihr Vorschlag bei den Verantwortlichen der Gesundheitspolitik angekommen?
Ute Repschläger: Die steigenden Kosten im Gesundheitswesen haben dazu geführt, dass dieser Vorschlag sehr gut angekommen ist. Dies ist ein Grund dafür, dass die Idee zumindest teilweise Bestandteil des alten und neuen Koalitionsvertrags ist. Im Jahr 2008 hat es uns der Gesetzgeber ermöglicht, mehr Autonomie zu testen.
Hier geht es allerdings noch nicht um den Direktzugang als solchen. In den Modellregionen Westfalen-Lippe und Berlin dürfen die Physiotherapeuten aber mehr hinsichtlich der Wahl, Frequenz und Dauer der Physiotherapie selbst entscheiden. Voraussichtlich Ende 2014 werden wir mit der abschließenden Auswertung der Studiendaten beginnen. Anschließend entscheiden die Verantwortlichen, ob und wenn ja, in welcher Form mehr Autonomie für Physiotherapeuten gestaltet wird. Wir sind davon überzeugt, dass dies die Patientenversorgung in Deutschland wesentlich verbessern könnte.
bomedus: Umso wichtiger wird zukünftig die folgende Frage werden: Woran erkennt denn ein Patient überhaupt einen guten Physiotherapeuten?
Ute Repschläger: Das ist, wie auch in anderen Bereich, nicht ganz einfach zu beantworten. Es gibt allerdings verschiedene Kriterien, die einen guten Anhaltspunkt liefern. Folgende Fragen sollte sich der Patient stellen:
- Finde ich bei der ersten Kontaktaufnahme einen kompetenten Ansprechpartner vor, werde ich freundlich und respektvoll behandelt?
- Bekomme ich den ersten Behandlungstermin im angemessenen Zeitraum?
- Werden Terminabsprachen eingehalten?
- Untersucht und befragt mich der Therapeut gezielt vor der Behandlung?
- Geht der Physiotherapeut individuell auf mein Krankheitsbild ein?
- Erhalte ich umfassende und verständliche Aufklärung auf meine Fragen?
- Wird meine Intimsphäre während der Behandlung gewahrt?
- Kann eine Bezugsperson mit in die Behandlung kommen?
- Ist die Praxis gut ausgestattet und sauber?
- Ist der Datenschutz gewährleistet?
- Wird nach Qualitätsstandards gearbeitet, etwa nach denen des Institut für Qualitätssicherung in der Heilmittelversorgung – IQH e.V.?
bomedus: Sie berichten auf der Seite Ihres Verbands von einem Fachkräftemangel bei Physiotherapeuten. Andererseits liest man regelmäßig von der hohen Dichte an Praxen in vielen Städten. Wie passt das zusammen?
Ute Repschläger: Dieser scheinbare Widerspruch ist vor allem auf die schlechte Vergütung der Physiotherapie zurückzuführen. So verdient ein Angestellter durchschnittlich etwa 2.100 € brutto. Deshalb wollen vielen nicht angestellt sein und machen sich z.B. selbstständig, was dazu führt, dass sich die Dichte der Praxen erhöht. Durchschnittlich arbeiten nach unseren Recherchen nur etwa drei Mitarbeiter in einer Praxis. Hinzukommt, dass zwar zahlreiche Physiotherapeuten ausgebildet werden, viele davon aber erst nach ihrer Ausbildung erkennen, wie es um die Vergütung ihrer Arbeit bestellt ist. Gerade studierte Physiotherapeuten wechseln dann häufig in andere Bereiche, wie etwa zu Krankenkassen oder Universitäten.
Wir müssen die genannten Probleme in nächster Zeit dringend in den Griff bekommen. Zum einen deswegen, weil Patienten heute früher als noch vor der Einführung der DRGs (Diagnosis Related Groups) im Juli 2003 aus dem Krankenhaus entlassen werden und dementsprechender Nachbehandlungsbedarf besteht. Zum anderen steigt der Bedarf an Physiotherapie durch die steigende Lebenserwartung der Menschen.
bomedus: Sie sind seit 29 Jahren Physiotherapeutin oder, wie man früher sagte, Krankengymnastin. Zusätzlich engagieren Sie sich in Ihrem Verband für Ihre Kollegen. Ihr Beruf hat doch sicherlich auch seine guten Seiten, oder?
Ute Repschläger: (Lacht) Ja, es ist, abgesehen von den Problemen die wir haben, ein toller Beruf. Durch die Therapie haben wir einen sehr persönlichen Kontakt zu unseren Patienten und bekommen auch direktes Feedback. Es ist schön zu sehen, wenn wir Menschen helfen können und sich ihre Lebensqualität dadurch wieder erhöht.
bomedus: Herzlichen Dank für das Gespräch! Wir wünschen Ihnen für die Zukunft viel Erfolg bei Ihren Bemühungen um eine bessere Anerkennung Ihres Berufsstands.